Programm

Transdisziplinäres Kolloquium
Bildung ohne Schule?
Freilernen als Herausforderung für Sozial- und Rechtswissenschaften
am Freitag, 19. Oktober 2018, 10-16.30 Uhr
Justus-Liebig-Universität Gießen, Margarete-Bieber-Saal, Ludwigstr. 34, 35390 Gießen
09:30 Öffnung des Tagungsbüros; Kaffee zum Eingang
10:00 Begrüßung (Karen Kern, Prof. Dr. Franz Reimer)
10:15 Bildungswissenschaftliche Perspektive
Referat: Tim Böder, Universität Duisburg-Essen
Korreferat: Prof. Dr. Christine Wiezorek, Justus-Liebig-Universität Gießen
11:20 Soziologische Perspektive
Referat: Prof. Dr. Thomas Spiegler, Theologische Hochschule Friedensau
Korreferat: Prof. Dr. Thomas Brüsemeister, Justus-Liebig-Universität Gießen
12:20 Betroffenenperspektive
Bettina Schickhoff (18), Potsdam, und Josias Kern (25), Stuttgart-Hohenheim
13:00 Mittagspause
14:00 Psychologische Perspektive
Referat: Dr. habil. Roland Thomaschke, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
15:05 Rechtswissenschaftliche Perspektive
Referat: Prof. Dr. Felix Hanschmann, Humboldt-Universität zu Berlin
Korreferat: Prof. Dr. Markus Winkler, Universität Mainz
16:10 Abschluss (Karen Kern, Prof. Dr. Franz Reimer)
16:30 Kaffee zum Ausklang


Redner und Vorträge

Dr. Julian von Lucius LL.M. (Cardozo), Rechtsanwalt, Noerr LLP, Berlin

Selbstbestimmte Bildungswege aus Sicht des Verfassungsrechts

Der Vortrag untersucht die verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen für schulische Bildungswege jenseits schulischer Anstalten (Homeschooling, selbstbestimmtes Lernen). Dabei wird insbesondere die Frage aufgeworfen, ob sich das in Deutschland geltende Verbot von Homeschooling verfassungsrechtlich halten lässt. Im Zentrum steht dabei eine Analyse des Verhältnisses zwischen elterlicher Verantwortung für die Erziehung der Kinder und öffentlichem Bildungs- und Erziehungsauftrag. Im Hinblick auf Formen des selbstbestimmten Lernen stellt sich zudem insbesondere die Frage, welche Bedeutung das deutsche Verfassungsrecht den Selbstbestimmungsrechten von Kindern (im Bereich der Bildung) einräumt. Insgesamt soll gezeigt werden, dass dem Gesetzgeber zahlreiche Möglichkeiten offenstehen, die schutzwürdigen Interessen der Kinder und der staatlichen Gemeinschaft zu wahren, ohne häusliche Formen des Lernens schlichtweg zu verbieten. Der Vortrag kommt zu dem Ergebnis, dass die Landesgesetzgeber dazu aufgefordert sind, diese Regulierungsaufgabe wahrzunehmen und eine legale Option für alternative Bildungsformen im Schulrecht zu verankern.

Jost von Wistinghausen, Rechtsanwalt, Swisttal
Selbstbestimmte Bildungswege aus Sicht der Rechtspraxis

Auf welche rechtlichen Hürden treffen junge Menschen, die sich für einen selbstbestimmten Bildungsweg entscheiden? Größte Herausforderung ist die scheinbar unüberwindbare Hürde: „Nichtschulbesuch ist Kindeswohlgefährdung“. Diese Leerformel wird allzu häufig als Argument herangezogen, wenn Schulen, Schulämter, Jugendämter, Bußgeldstellen und dann die Gerichte versuchen, ihr eigenes Eingreifen zu rechtfertigen. Wesentlich ist hierbei die Frage, mit welchem Recht der Staat in die Freiheitsrechte eines jungen Menschen und seiner Familie eingreift, wenn dieser sich dafür entscheidet NEIN zu sagen: etwa Nein zum Besuch einer Schule im organisatorisch-formalen Sinne, wie es die einzelnen Schulgesetze verlangen.

Familien, die es ablehnen, den Schulbesuch gegen den erklärten und ernstzunehmenden Willen ihrer Söhne und Töchter letztlich mit aller – auch subtilen – Gewalt durchzusetzen, sehen sich häufig mit Verfahren in drei unterschiedlichen Rechtsgebieten konfrontiert:

  • Bußgeldverfahren oder in manchen Bundesländern Strafverfahren,
  • Familiengerichtliche Verfahren, die aufgrund einer angeblichen   Kindeswohlgefährdung zum Entzug der elterlichen Sorge bis hin zur Herausnahme   der jungen Menschen aus der Familie führen können,
  • (Schul-) Verwaltungsrechtliche Verfahren: Verwaltungszwangsverfahren, aber auch Verfahren zur Befreiung von der Schulpflicht.

Jedes dieser Verfahren ist eine eigenständige Herausforderung, die in der anwaltlichen Praxis auch einer individuellen Herangehensweise bedarf.

Vor diesem Hintergrund soll der Vortrag einige der juristischen Wege beleuchten, die es ermöglichen könnten, dass diese Familien nicht mehr kriminalisiert und die jungen Menschen nicht weiter pathologisiert werden. Es stellt sich die Frage, ob bereits ein Mentalitäts- und damit ein juristischer Wandel stattfindet, der jungen Menschen die Chance eröffnet, den Weg der selbstbestimmten Bildung zu gehen.

  

Prof. Dr. habil. Thomas Mohrs, Philosoph, Pädagogische Hochschule Oberösterreich, Linz

Kinderwille ist Kälberdreck!“ – bildungsphilosophische Reflexionen zum Begriff „Kindeswohl

Nach einer ganz kurzen Erklärung zur provokanten „Kälberdreck“-These wird Thomas Mohrs sich im ersten Teil des Vortrages kritisch mit der Frage auseinandersetzen, welche handfesten (philosophischen) Kriterien oder Maßstäbe es geben könnte, den Begriff „Kindeswohl“ eindeutig und allgemeingültig zu definieren – und aller Voraussicht nach an der definitiven Beantwortung dieser Frage scheitern, in der Aporie stranden.

Aber die philosophische Aporie oder das Dilemma bieten auch die Chance, gerade wegen der objektiven „Weglosigkeit“ einen Weg vorzuschlagen, der einem plausibel und sinnvoll erscheint. Deshalb möchte er im zweiten Teil seines Vortrags im Ausgang von Herbert Renz-Polsters „Plädoyer für eine artgerechte Erziehung“ eine Interpretation des Begriffs „Kindeswohl“ entwickeln, die von der (womöglich simpel erscheinenden) Frage ausgeht, was Menschenkinder brauchen, um sich „wohl“ entwickeln zu können.

Es wird wohl keine pauschale Hymne auf das Freilernen, aber dass die umgekehrte These, Freilernen gefährde das Kindeswohl, unhaltbarer Unfug ist, hofft Thomas Mohrs deutlich machen zu können.


Dr. Alan Thomas, Entwicklungspsychologe, Gastdozent am Institut für Bildungsforschung der Universität London. Mitglied der British Psychological Society

Autonomous and Informal Learning: a Challenge to the Educational Establishment

Alan Thomas is a developmental psychologist based at UCL Institute of Education, London. His particular interest in how children learn eventually led him to undertake research into home education. There he discovered the richness and complexity of informal learning and the importance of child autonomy which he then studied in more depth with Harriet Pattison. For anyone who is new to the idea it is necessary to cast aside all preconceptions about education. It means abandoning most of the apparatus of formal education: set curricula, planning lessons and monitoring age related progress. Understandably, this is extremely difficult for the vast majority who assume that the principles and practices underlying education in school are essential to learning. It demands a paradigmatic shift in thinking about the learning and also about the nature of social development.

Selbstbestimmtes und informelles Lernen: eine Herausforderung für das pädagogische Establishment

Alan Thomas ist Entwicklungspsychologe am UCL Institute of Education, London. Sein spezielles Interesse wie Kinder lernen, hat ihn dazu gebracht Home Education (Bildung zu Hause) zu untersuchen. Dabei entdeckte er den Reichtum und die Komplexität informellen Lernens und die Bedeutung der Autonomie des Kindes. Beides untersuchte er zusammen mit Harriet Pattison tiefergehend. Für jeden, der sich neu mit diesem Thema befasst, ist es notwendig, die bisherigen Vorstellungen von Bildung zur Seite zu schieben. Das heißt, das Verlassen/Aufgeben großer Teile des formalen Bildungssystems: Bildungspläne, geplante Unterrichtsstunden und die Kontrolle des altersabhängigen Lernprozesses. Verständlicherweise ist dies sehr schwierig für die große Mehrheit, die annimmt, dass die der Bildung unterliegenden Prinzipien und deren Praxis für das Lernen notwendig sind. Es braucht einen paradigmatischen Sichtwechsel über das Lernen und ebenso über die Natur der Entwicklung sozialer Fähigkeiten.

Der Vortrag von Alan Thomas wird ins Deutsche übersetzt.

Dr. Andreas Vogt, Rechtsanwalt, Eschwege

Das Selbstbestimmungsrecht des Kindes, das Elternrecht und der Erziehungsauftrag des Staates

Nach der zum schulbesuchsfreien Lernen ergangenen (Kammer-) Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts setzt das Grundgesetz die „Notwendigkeit einer Bevormundung von Kindern“ voraus; ein Selbstbestimmungsrecht des Kindes, sich gegen den Besuch einer Schule zu entscheiden, sei nicht anzuerkennen; auch die Eltern hätten es „hinzunehmen, dass der Staat seinen verfassungsrechtlichen Erziehungsauftrag nach seinen bildungspolitischen Vorstellungen zu verwirklichen sucht“. Ist diese auf Art. 7 Abs. 1 GG gegründete Unausweichlichkeit der Schulbesuchspflicht vereinbar mit den – immerhin als vorstaatliches Recht anerkannten – Elternrechten (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG), auf die sich die Eltern nur bei Vorliegen einer Kindeswohlgefährdung nicht berufen können (Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG), und mit dem Selbstbestimmungsrecht des Kindes? Immerhin hat das Bundesverfassungsgericht (Senat) anerkannt, dass die Pflege- und Erziehungserfordernisse und „die im Elternrecht wurzelnden Rechtsbefugnisse“ mit „zunehmender Selbstbestimmungsfähigkeit des Kindes“ und „abnehmender Pflege- und Erziehungsbedürftigkeit“ hinter den Grundrechten des Kindes zurücktreten. Muss das (analog) nicht auch im Kind-Staat-Verhältnis gelten? Oder wiegen das Elternrecht und das Selbstbestimmungsrecht des Kindes stets leichter als der „Erziehungsauftrag des Staates“, so dass autonome Beweggründe keine Befreiung von der Pflicht zum Besuch einer „Schule“ im organisatorisch-formalen Sinne rechtfertigen?

Matthias Kern

Kinderrechte, Kindeswohl, Kindesinteressen und Kindeswille – Aspekte der wissenschaftlichen Diskussion

Der Beitrag stellt die Entwicklung und die gegenwärtige Situation der Rechte – insbesondere der Selbstbestimmungsrechte – junger Menschen dar. Er betrachtet das Verhältnis und die Gewichtung der Kategorien „Protection“, „Provision“ und „Participation“ (Schutzrechte, Versorgungsrechte/Förderrechte, Beteiligungsrechte/Handlungsrechte) und damit die Beziehung zwischen Kinderrechten, Kindeswohl, Kindesinteressen und Kindeswillen.

Im Hinblick auf die Bildung wird die Frage untersucht, ob und gegebenenfalls in welchem Maß die sich durch paternalistische Vorgaben und Maßnahmen ergebenden Einschränkungen der Selbstbestimmungsrechte der jungen Menschen gerechtfertigt werden können – und ob und inwieweit selbstbestimmte und selbstorganisierte Bildungswege eine Kindeswohlgefährdung darstellen können.

Teilnehmer der Podiumsdiskussion

Immanuel Wolf

Immanuel Wolf hat in der zweiten Klasse die Schule verweigert und ist  den Großteil seiner schulpflichtigen Zeit als Freilerner aufgewachsen. Er engagiert sich seit vielen Jahren innerhalb der Freilernerszene und ist Mitherausgeber der Zeitschrift „die freilerner – Zeitschrift für selbstbestimmtes Leben und Lernen„.

Laura Hoffmann

Sie hat etwas mehr als ein Jahr eine Schule besucht, weil sie das auch mal erleben wollte. Den Rest der Zeit war sie mit ihrer Familie vor allem im Ausland viel auf Reisen. Als Teenager hat sie sich bewusst dazu entschlossen, keinen Abschluss zu machen, da sie bereits genügend Projekte hatte. Mit 18 hat sie sich dann als Webmasterin/Grafikdesignerin selbstständig gemacht, einen kleinen Laden eröffnet und einen Onlineshop geführt. Vor drei Jahren hat sie ihren Traumjob in einem Spieleverlag gefunden und arbeitet dort in einer Führungsposition im Grafik- und Produktionsbereich.

Esra Reichert

Esra Reichert, 22 Jahre alt und Geographiestudent, verbrachte die letzten vier Jahre seiner Schulzeit nicht in einem Schulgebäude. Stattdessen reisten seine Eltern mit ihm und seinen beiden Geschwistern als Naturfotografen durch Europa. Unterrichtet wurden die drei Kinder nicht – die Eltern sorgten viel mehr für ein Umfeld, in dem ihre Kinder selbstbestimmt lernen konnten. Da Esra studieren wollte, entschied er sich, das Abitur über die Schulfremdenprüfung zu erwerben. Er eignete sich den Abiturstoff autodidaktisch über einen Zeitraum von neun Monaten an und legte dann an einer Schule in Baden-Württemberg die Prüfung ab. Heute studiert er im 5. Semester.

 

Magali Fischer

Magali Fischer hat nach einem halben Jahr auf der Waldorfschule die Schule verlassen, da sie ihr nicht gut getan hat. Sie hat dann bis zu ihrem Realschulabschluss ohne Schule gelernt und sowohl den Hauptschul- als auch den Realschulabschluss über die Externenprüfung abgelegt. Seit letztem Jahr besucht sie die Oberstufe der Montessorrischule in Landau mit dem Ziel, das Abitur zu machen und hat gerade die 11. Klasse erfolgreich abgeschlossen.